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Hartmut Kiewert mit "Animal Utopia" in der Kleinen Galerie Döbeln


 Die Einladungskarte zur Ausstellung liegt in meiner Hand, ich drehe sie um. Auf der Rückseite steht ein kurzer Informationstext zum gemalten Werk des Künstlers: 

 "(...) Kühe, Schweine und Hühner erobern sich den Stadtraum und begegnen Menschen auf Augenhöhe. Schlachthäuser und Mastanlagen sind ruiniert. Tiere treten als Handelnde und Mitgestaltende in Erscheinung. Seit gut 13 Jahren setzt sich der Leipziger Maler mit dem gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnis auseinander und zeigt Perspektiven eines herrschaftsfreien Zusammenlebens."

Das Bild, das für die Vorderseite ausgewählt wurde, zeigt ein solches, gemaltes Szenario: Menschen und Tiere zusammen im städtischen Raum, hier an einer Bushaltestelle... Zu sehen ist eine Gruppe von 4 Wildschweinen, zwei davon Ferkel, die gemächlich an der Haltestelle auf dem grauen Asphalt vorbeizieht. Im Hintergrund drei Menschen, ein alter Mann, ein Teenie und ein Junge. Menschen wie Du & ich. Zeitgenössische Menschendarstellungen... Hmmm. 

Diese gefallen mir oft nicht, meist sogar, ohne daß ich sagen könnte, woran genau das liegt... Auch hier sind Menschen aus unserer Zeit, Zeitgenossen von uns dargestellt: ich schaue mir die Einladungskarten-Vorderseite eine Weile in Ruhe an und werfe nochmal einen Blick auf den älteren Herrn: der Senior sitzt auf einer roten Haltestellen-Sitzbank, mit Altherren-Jeans und alltagstauglich hochgekrempelten Hemdsärmeln, stützt sich auf seinen Gehstock und schaut versonnen nach links. Rechts neben ihm der Junge und der Teenie, beide ebenfalls auf der Sitzbank wartend. Der ältere Junge hält dem jüngeren eine Plasik-Flasche Wasser hin. Beide tragen trendige Alltagsklamotten mit Sportschuhen, Jeans, übergroßem T-Shirt und Cappy. Hmmm... 

...Kann es sein, daß die Menschen auf dem ausgewählten Beispielbild so wirken, als seien sie Illustrationen zu einem Jugendbuch? Irgendwie so harmlos, illustrativ halt. Mehr wie das Werk eines Grafikers, nicht wie das von einem Künstler, denke ich mir noch und schwinge mich aufs Rad, um trotzdem zu der auf dem Flyer angekündigten Vernissage der Ausstellung "Animal Utopia" zu fahren, einer Präsentation in den Räumlichkeiten der Kleinen Galerie vom Stadtmuseum Döbeln. Warum ich trotzdem fahre? Weil ich mich gerne eines Besseren belehren lassen möchte, denn was sind schon Abbildungen im Gegensatz zu Originalen? Es geht doch nichts über ein Original und dessen direkte Anschauung! Ich bin freudig gespannt, komme nach fünfzehn Minuten im Zentrum an und parke mein Rad direkt an unserem schmucken Rathaus auf dem Obermarkt, in dem sich die Kunst-Räumlichkeiten befinden: wir haben Freitag-Abend, den 25ten März 2022 und der Künstler, der heute Abend dem einheimischen und vielleicht sogar angereisten Publikum seine Werke präsentieren und sich der öffentlichen Situation stellen wird..,- heißt..: ich lese es ab "HART-MUT KIE-WERT". Hartmut Kiewert. Ein ernster Name, geht es mir durch den Kopf, als ich den Fahrstuhl in den dritten Stock nehme... Also auch ein ernster Mensch?

Die Fahrstuhltür öffnet sich und nach wenigen Schritten entlang des schmalen Flures erweitert sich der Raum in den Hauptraum der Kleinen Galerie. Sie ist gutgefüllt mit Besuchern und das Publikum durchschnittlich jünger als zu anderen Gelegenheiten... Der 1980 in Koblenz geborene Künstler hat anscheinend Gefolge aus seiner aktuellen Wahlheimat Leipzig angezogen. Dafür sind von dem meist schon betagten Stammpublikum des Stadtmuseums weniger da als sonst, was wahrscheinlich an Corona liegt... 

 

Bus Stop IV
 

Die präsentierten Werke sind tatsächlich nicht nur zeitgenössisch, sondern auch zeitgemäß: sie wirken vom ersten Moment an frisch und cool und bemächtigen sich ganz selbstverständlich der klaren, gut ausgeleuchteten Galerie-Räume... Allen Bildern zu eigen ist eine lebendige Farbigkeit, die aber bei aller Freiheit in der Farbgebung durch etwas dezent Kalkiges nie zu bunt wird. Ich streife durch die Räume um mir einen ersten Eindruck der groß- bis kleinformatigen Malerei an den Wänden zu verschaffen und muss schon innerhalb der ersten Minuten meine ursprünglichen Vorbehalte bezüglich der Menschendarstellungen über Bord werfen: wenn man nämlich vor den Originalen in Öl steht, kann man durch das vielfach Größere des Bildes - im Vergleich zu den Flyer-Abbildungen - die gesamte Figur und die Gesichter der Dargestellten in allen Einzelheiten bis hin zum Charakter des Pinselstriches studieren und diese Nahaufnahmen überzeugen bei Hartmut Kiewert! Eine ungeheuer lässige Detailtreue mit stets zielsicherem Ölfarben-Auftrag. Die Personen auf den Bildern haben allesamt Charakter, sind Individuen, mit ganz eigener Ausstrahlung, die sich auch in der Körperhaltung und der Kleidung widerspiegelt. 

 

Brunnen

 
Brunnen (Detail)



Brunnen (Detail)


Brunnen (Detail)

Und sie sind wirklich nie allein. Ihnen stets zur Seite gestellt, in ihrer direkten, nahesten Umgebung sind immer auch Tiere: Haustiere wie Hunde, Nutztiere wie Schweine, Kühe und Hühner und freilebende Tiere wie Krähen... 

 

Kathrin Fuchs - Leiterin der Kleinen Galerie / des Stadtmuseums

 
Cellistin Almut Voigt & Fagott-Spielerin Anja Fischer



Kunstwissenschaftlerin Luise Thieme
 
 
Ich könnte jetzt von dem offiziellen Teil der Vernissage erzählen..,- von den anfänglich einführenden und dann zwischendurch begleitenden Worten der Museumsleiterin Kathrin Fuchs, von den musikalischen Einlagen der Cellistin Almut Voigt & der Fagott-Spielerin Anja Fischer und von der Eröffnungsrede der Kunstwissenschaftlerin Luise Thieme, aber erstens kann man all das im abgespeicherten Life-Stream des YouTube-Kanals der Kleinen Galerie / des Stadtmuseums Döbeln rückblickend nachverfolgen und zweitens wollte ich mich allein auf das konzentrieren, worum es hier bei all dem schönen, zur geselligen Kurzweiligkeit einladendem Rahmenprogramm, dem Überreichen der Blumen / Dankespräsente, den aufgetafelten Vegan-Naschereien & den Getränken, dem ausgelegten Info-Material in Form von Postkarten und einem Ansichtsexemplar-Katalog des Künstlers, hauptsächlich geht, nämlich um die ausgestellten Original-Werke. Und natürlich deren Erschaffer, Hartmut Kiewert. 
 
Ausstellender Künstler Hartmut Kiewert
 
Dieser hatte übrigens zuvor mit Frau Fuchs abgesprochen, daß er bei der offiziellen Eröffnung der Ausstellung selber nichts Konkretes zu seiner Kunst sagen will, sich aber gerne im darauffolgenden nichtoffiziellen Abschlussteil der Veranstaltung den Fragen / der Kritik des Publikums im persönlichen Zwiegespräch stellen würde. Und er hat Wort gehalten, hat den ganzen restlichen Abend, bis zur letzten Minute, jedem, der sich gesprächsbedürftig an ihn gewandt hat, mit all seiner ruhigen, konzentrierten und immer auch leicht angespannten Aufmerksamkeit Rede und Antwort gestanden. So auch mir.  

Doch zuerst dokumentiere ich die Bilder fotografisch, am Anfang in der Totalen, dann auch immer mehr im Detail, und frage mich: Geht es hier tatsächlich um Utopien des Künstlers? Um eine friedliche, gleichberechtigte Symbiose zwischen Mensch und Tier, wie es der Ausstellungstitel "Animal Utopia" suggeriert? Doch was sind das für soziale Symbiosen? Sind dies die Darstellung eines: "Es könnte alles so schön sein...", wenn wir unsere leider völlig benachteiligten, unterdrückten Nicht-Artgenossen nur wie unseres Gleichen behandeln würden, so à la "Die Würde des Tieres ist unantastbar" und "Wir sollten alle Veganer werden"? Wenn dem so wäre, würde mir das nicht genügen, denn schließlich soll es hier ja um Kunst gehen, wenn auch um scheinbar politische. Neben diesem politischen Aspekt interessiert mich wirklich erst einmal, wie KÜNSTLERISCH die Malereien sind: Ich schaue mir die Bilder noch genauer an und versuche zu sehen, was sie im Endeffekt ausstrahlen, nicht, was Hartmut Kiewert bewusst hineinlegen wollte, denn gut gemeint ist ja nicht immer gut gemacht... Er ist übrigens Veganer, achtet selbst bei seinen Pinseln und Farben darauf, daß sie seinen ehrenwerten, hochmoralischen Ansprüchen genügen und hat sich auch wissenschaftlich-theoretisch schon umfassend mit der desolaten Situation der Tiere in unserer Neuzeit beschäftigt, z.B. in seiner Diplomarbeit an der Hochschule für Kunst und Design, Burg Giebichenstein, Halle, wo er seinen Abschluss mit Auszeichnung absolviert hat.

 

Share II
 

Ich schaue noch genauer hin. Plötzlich werden die Bilder etwas unheimlich: irgendetwas stimmt hier nicht und das ist gut so. Es wird spannend! Ich stehe vor den großformatigen Gemälden, lasse sie einfach nur auf mich wirken, und sehe mehr und mehr, daß die Wirklichkeit, die hier dargestellt wird, bei aller hellen, freundlichen Farbigkeit eine dunkle und kraftvolle Ausstrahlung hat! Daß die Tiere ernst und in sich ruhend sind, und nicht als bemitleidenswerte oder süßliche Geschöpfe dargestellt werden. Mir kommt plötzlich ein Gedanke: Was ist, wenn es sich bei den Tierdarstellungen gar nicht um lebende Tiere handelt, sondern um tote, um deren Seelen? Was ist, wenn Hartmut Kiewert in seinen Bildern unbewusst davon erzählt, daß die Tiere, die wir brutal morden, als Seelen um uns herum sind und uns begleiten? Dieselben Tiere, die wir auf dem Gewissen haben, all die Millionen Nutztiere und freilebenden Tiere, die wir ausnutzen, quälen, töten und essen, scheinen hier jedoch keinerlei Rachegelüste gegenüber uns zu hegen. Aber sie sind auch nicht wirklich bei uns, sind zwar "mit dabei" aber so, wie in zwei parallel existierenden Realitäten. Da ist einmal die "reale" Realität und einmal die "Geister"-Realität... Vielleicht in einem Wunschtraum... Die Inder glauben ja an die Wiedergeburt. Sie glauben daran, daß Ihre Ahnen z.B. auch in den Tieren weiterleben. Es gibt eine indische Spruchweisheit, die lautet: "Gott schläft im Stein, atmet in der Pflanze, träumt im Tier und erwacht im Menschen." Wenn es wirklich so wäre, daß wir wiedergeboren werden, und wir das auch wüssten, dann würden wir alle ganz anders mit Tieren und Pflanzen, ja vielleicht sogar mit Steinen umgehen... 

Ich fokussiere mit meinem Kamera-Objektiv die menschlichen Gesichter auf den Bildern. Sind wir Menschen denn bei uns? Was machen die Menschen in Hartmut Kiewerts Bildern eigentlich genau? Sie beschäftigen sich, alleine oder miteinander, oder mit den Tieren, aber auch sie sind meist in sich versunken und ernst. Die auf den ersten Blick hellaufleuchtende, vermeintliche Geselligkeit wird zu einem "wir sind zwar zusammen, aber im Grunde ist jeder für sich und das einzige, was man machen kann, ist, sich irgendwie zu beschäftigen, mit der Gemeinschaft oder allein"... Andererseits sieht man in manchen Gruppensituationen aber auch ein wirkliches, gemeinsames Erleben und den Ausdruck von Freude in den Gesichtern der Menschen und Tiere... 

 

Ballons 


Ballons (Detail)


 

Brunnen (Detail)


Was sieht man noch auf den Bildern? Tierluftballons, Brunnenfiguren, Graffiti... Und immer wieder die unterschiedlichsten Bälle,- Sinnbilder der Erde! Die bunten Tierluftballons in einem der Bilder könnten ein Symbol für die Verniedlichung und Vermenschlichung der Tiere durch die Phantasie der Menschen sein, sie wirken durch ihre Passivität an den Luftballonschnüren und ihrer eingefrorenen, statischen Mimik wie Gefangene im bunten Zusammenleben. Wohingegen in dem Bild mit dem Brunnen die Brunnenfigur fast lebendiger als die daneben dargestellten Menschen zu sein scheint... "Gott schläft im Stein..." 

 

Brunnen (Detail)
 

In mir wächst die Gewissheit: die Bilder von Hartmut Kiewert sind keine Utopien, sondern ein Spiegel der Wirklichkeit, wie sie jetzt schon ist, und schon immer war... Jeder Mensch, jedes Lebewesen, das auf die Welt kommt, hat sein Leben lang nur sich selbst als Zentrum und kann sich der Existenz der Anderen nie sicher sein, bis zu seinem Tod. Habe ich mir die Anderen nur eingebildet? Ist wirkliche Kommunikation denn möglich? Und wie vertraut kann man überhaupt miteinander werden?

Die Tiere in den Gemälden Kiewerts erweitern durch die Sprache der Kunst die dargestellte Realität um einen zusätzlichen, hochinteressanten Aspekt: um den des Fremden. Die Nutztiere und die freilebenden Tiere, wie die Kühe und Wildschweine, wirken in den meisten Bildern absolut fremd, auch weil man als Betrachter nicht gewohnt ist, sie in dem gegebenen Rahmen zu sehen / zu erleben... Die Haustiere, wie Katzen und Hunde, wirken nur halbfremd, somit sind sie wie das Bindeglied zwischen den fremden Tieren und den Menschen... 

 

Share II (Detail)
  

Insofern sind die Bilder trotzdem auch UTOPIEN: sie zeigen eine Welt, in der Lebewesen miteinander leben, miteinander Zeit verbringen, sich miteinander beschäftigen, obwohl einige von Ihnen etwas fremdartig und manche sogar sehr fremdartig sind... Es gibt einen Spruch von mir: "Was einem fremd ist, das beäugt man mit kalten Augen..." In Hartmut Kiewerts Gemälden sehen wir, wie der Mensch diesen "kalten Blick" auf manche Lebewesen, die er deshalb auch nicht achtet und dann glaubt grausam behandeln zu können, verlieren könnte: indem er sie sich durch ein gelebtes Miteinander vertraut macht! Nur durch gemeinsame Erfahrungen kann Vertrauen überhaupt entstehen, und somit auch wirkliches Verständnis und Mitgefühl... Und das betrifft auch den Menschen allein, ganz unabhängig von den Tieren, denn auch Menschen, die wir nicht kennen, denen gegenüber wir Vorurteile haben und die wir nicht richtig einschätzen können, sind uns FREMD.

 

Share II (Detail)
 

Als ich mich später am Abend mit dem Künstler unterhalte, sage ich ihm, daß er es meiner Meinung nach geschafft hat, sich wirklich in die dargestellten Menschen und Tiere einzufühlen, worauf er mit ernster Stimme meint, daß es das wäre, worum es immer gehen würde: um Empathie. 

 


Foto: Hartmut Kiewert und Kathrin Fuchs mit dem Vernissagen-Team: Johannes Gersten (ganz links) von "media nostra", der ehrenamtlich den YouTube-Livestream zur Vernissage ermöglicht hat, mit Hilfe des Treibhaus e.V., der mit einem ebenfalls ehrenamtlichen Mitarbeiter das Equipment für den Stream zur Verfügung stellte. 2ter von rechts: Tom Zimmermann, Leiter des deutschlandweiten "Tierbefreiungsarchivs", der die Ausstellung mitinitiiert und auch das Begleitprogramm mitorganisiert hat,- der ehemalige Döbelner hat Kathrin Fuchs mit dem Künstler Hartmut Kiewert bekannt gemacht 

ENDE 

Text & Fotos: Havva Erdem (HvvH) - Künstlerin & Literatin - Webseiten-Profil

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ANIMAL UTOPIA
25ter März bis 20ter Mai 2022
 
Freitag, 25. März 2022. 19:30 Uhr
Die Eröffnungsrede hält die Kunstwissenschaftlerin Luise Thieme
 
Freitag, 20. Mai 2022, 19 Uhr 
 
Rathaus, Obermarkt 1
04720 Döbeln 
 
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Programm während der Laufzeit der Ausstellung
 
"Die Rechte der Tiere"
Freitag, 8. April 2022, 19:00 Uhr
 
"Landwirtschaft ohne Mist?"
Freitag, 29. April 2022, 19:00 Uhr
 
"Von Tierschutz zu Tierrecht - eine historische Spurensuche"
Freitag, 20. Mai 2022, 19 Uhr
 
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